Im Namen der Mündigkeit: Wie eine infantilisierende Regierung den Rechtsstaat zur Gummizelle umbaut

2025 war das Jahr, in dem die sogenannte „wehrhafte Demokratie“ endlich zeigte, was sie wirklich sein will: eine empfindliche, nervöse Ordnung, die vor allem vor der eigenen Bevölkerung geschützt werden muss. Der neueste Geniestreich aus Berlin lautet: Wer beim nächsten Deutungswechsel der Volksverhetzungsparagrafen falsch atmet, soll nicht nur strafrechtlich verfolgt, sondern gleich auch noch von Wahlen ausgeschlossen werden. Nicht etwa, weil er Wahlfälschung betrieben hätte, Stimmen gekauft oder das Parlament gestürmt hätte. Sondern weil er etwas gesagt hat, das der jeweils amtierenden Moralverwaltung missfällt.

Das ist kein Betriebsunfall. Das ist Methode.

Vom Rechtsstaat zum Erziehungsstaat

Der Plan, das passive Wahlrecht bei mehrfacher Verurteilung wegen Volksverhetzung zu entziehen, wird in der politischen PR als „Resilienzstärkung der Demokratie“ verkauft. Man könnte auch sagen: Wer nicht das sagt, was der Staat hören will, soll künftig zwar noch wählen dürfen, aber bitte niemand mehr sein, der gewählt werden kann. Das stört den Betriebsfrieden in der herrschenden Kaste weniger. So bleibt das Personal im Parlament schön unter sich.

Das passive Wahlrecht ist nicht irgendein nettes Zusatzrecht wie BahnBonus-Punkte. Es ist ein konstitutives Element der Demokratie. Es soll sicherstellen, dass grundsätzlich jeder Bürger nicht nur wählen, sondern auch gewählt werden kann. Wer an dieses Recht die Strafrechtsmaschine anschließt und es an einen extrem dehnbaren Tatbestand wie § 130 StGB koppelt, dreht nicht an einer Schraube, sondern an der Grundarchitektur.

Der Rechtsstaat, wie ihn das Grundgesetz vorsieht, ist ein System, das Freiheit schützt, indem es die Macht begrenzt, kontrolliert und neutral hält. Was jetzt entsteht, ist das Gegenteil: Das Strafrecht wird politisiert, Begriffe werden aufgeblasen, Grenzen verschoben, und die Justiz wird zum pädagogischen Instrument umfunktioniert, mit dem man „unerwünschte“ Menschen dauerhaft aus der politischen Sphäre entfernt. Das hat mit Rechtsstaatlichkeit ungefähr so viel zu tun wie eine Parteitagsrede mit Wissenschaft.

Desinformation – wer definiert eigentlich die Wahrheit

Damit das alles besser verdaulich klingt, wurde ja schon in den letzten Jahren ein Begriff etabliert, der jede Repression in hübsche Pastellfarben taucht: „Desinformation“. Wer den offiziellen Narrativen widerspricht, wird nicht als kritischer Bürger wahrgenommen, sondern als Gefahr, als „Manipulator“, als „Sprachrohr fremder Mächte“, als „Hass und Hetze“ in Person.

Zuerst waren es „Faktenchecker“, dann „regelbasierte Moderation“, dann gesetzliche „Plattformpflichten“, jetzt sind wir beim passiven Wahlrechtsentzug angekommen. Aus Meinungsstreit wird Strafbarkeitsprüfung, aus abweichender Analyse wird Sicherheitsrisiko, aus Opposition wird „Radikalisierung“.

Die Spielregel ist einfach: Wer sich unabhängig informieren will, wer andere Quellen liest, wer die eigene Regierung und die EU kritisch hinterfragt, der rückt automatisch in die Nähe des Verdachtsfelds „Desinformation“. Die Konsequenzen reichen von Sperrungen und digitalen Sanktionen bis hin zu formellen Maßnahmen und Einfrierungen, je nach Einstufung. Was früher politische Auseinandersetzung war, wird heute als sicherheitspolitische Operation gefahren.

Ein klassischer Rechtsstaat vertraut darauf, dass Wahrheit und bessere Argumente sich im freien Diskurs durchsetzen. Die aktuelle Linie vertraut darauf, dass man unpassende Stimmen einfach abschaltet, bestraft oder unsichtbar macht. Es ist die Logik eines Regimes, das seine Bürger nicht als mündige Souveräne, sondern als Risiko betrachtet.

Mehr als die Hälfte des Weges

Der Weg in den Totalitarismus beginnt nie mit Panzern auf den Straßen. Er beginnt mit der Normalisierung von Ausnahmerechten, mit der Moralisierung von Strafnormen und mit der schleichenden Entwertung der politischen Rechte, die angeblich zu kostbar sind, um sie der Bevölkerung unkontrolliert zu überlassen.

Schon jetzt gibt es einen Meinungsstrafrechtstatbestand, der kontinuierlich erweitert und in alle politischen Konfliktzonen hineingezogen wurde. Dazu kommt eine europäische Infrastruktur zur Bekämpfung sogenannter Desinformation, inklusive Sanktionen und „maßgeschneiderter Maßnahmen“. Parallel wächst ein regulatorisches Netz, das Plattformen unter massiven Druck setzt, Inhalte „vorsorglich“ zu löschen. Und nun kommen Pläne hinzu, Menschen das passive Wahlrecht zu entziehen, wenn sie wiederholt in dieses politisierte Strafschema fallen.

Mehr als die Hälfte des Weges ist damit zurückgelegt. Der Rest ist Verwaltungsdetail. Es braucht dann nur noch ein paar weitere Ergänzungen: etwas weiter gefasste Tatbestände, ein paar neue „Expertenstellen für Demokratie-Resilienz“, eine Handvoll prominenter Beispiele, an denen man demonstriert, wie ernst man es meint. Der Übergang von der „wehrhaften Demokratie“ zur gelenkten Demokratie und weiter zur offenen Machtsicherung ist kein Sprung, sondern eine schrittweise Verschiebung – und genau in dieser Verschiebung stehen wir.

Wahlrechtsentzug: Rechtsbruch in moralischem Gewand

Verfassungsrechtlich ist der Entzug des passiven Wahlrechts ein scharfes Schwert, das nur in extremen Ausnahmekonstellationen überhaupt diskutabel ist. Schon die klassische Aberkennung von Rechten aufgrund bestimmter Delikte ist in der Literatur hoch umstritten, weil jede Aberkennung der Wählbarkeit einen tiefen Eingriff in den demokratischen Prozess darstellt.

Wählbarkeit bedeutet: Der Bürger darf selbst entscheiden, wen er politisch repräsentieren will – auch Menschen, deren Ansichten er für radikal, unbequem oder falsch hält. Wenn der Staat anfängt, vorzusortieren, wer überhaupt auf dem Stimmzettel auftauchen darf, verschiebt er die Grenze zwischen demokratischer Ordnung und vormundschaftlichem System. Er sagt im Kern: Du darfst wählen, aber nur aus denen, die wir für akzeptabel halten.

Wenn nun das ohnehin dehnbare Konstrukt der Volksverhetzung als Hebel genutzt wird, um politische Gegner aus dem demokratischen Wettbewerb zu entfernen, ist das keine Verteidigung der Demokratie mehr. Es ist die Zementierung einer Machtordnung. Nicht zufällig zielen die Pläne auf die „resiliente Demokratie“ gerade in einer Zeit, in der Vertrauen in Parteien, Medien und Institutionen auf Tiefständen ist.

Es geht erkennbar nicht darum, die Funktionsfähigkeit des Parlaments vor gewalttätigen Umsturzversuchen zu schützen. Es geht darum, unliebsame Kandidaten auf dem Weg zum Stimmzettel abzufangen und damit den Wählerwillen vorzusortieren. Das Grundgesetz kennt keine Pflicht des Bürgers, nur „regierungskompatible“ Personen wählen zu wollen. Wer das passive Wahlrecht über den Umweg eines politisierten Strafrechts selektiv entzieht, nutzt das Strafrecht zur Machterhaltung.

Vom Bürger zum Verdächtigen

Die Logik, die sich hier zeigt, ist eindeutig: Künftig wird jeder Kritiker potenziell als Verfassungsfeind betrachtet, nicht weil er Grundrechte abschaffen will, sondern weil er die Regierungspolitik zu deutlich kritisiert. Der Begriff der Verfassungsfeindlichkeit verschiebt sich vom Angriff auf die Ordnung hin zur Abweichung von der genehmigten Linie. Wer zu oft „falsch“ liegt, rhetorisch „übers Ziel hinausschießt“ oder Narrative infrage stellt, die gerade Staatsräson sind, wird kriminalisiert, stigmatisiert und aus dem politischen Raum gedrängt.

Parallel entstehen europaweit Netzwerke, um Informationen zu filtern, Sanktionen gegen vermeintliche „Propagandisten“ zu verhängen und digitale Räume durchregulieren zu können. Es entsteht ein Geflecht aus Gesetzen, Plattformdruck, Medienkampagnen und Sanktionsmechanismen, das in der Summe das Gleiche tut: Kritik so teuer zu machen, dass viele sie sich lieber sparen.

Das ist genau das Klima, das autoritäre Systeme brauchen, um nicht grob, sondern elegant zu funktionieren. Es braucht keine offenen Verbote mehr. Es reicht, wenn jeder spürt: Job, Konten, Reichweite, die Chance, jemals gewählt zu werden – all das hängt davon ab, ob man noch als „tragbar“ gilt.

DDR 2.0 – mit besserem Branding

Natürlich wird niemand offiziell von einer DDR 2.0 sprechen. Man nennt es „Schutz der demokratischen Institutionen“, „Bekämpfung von Hass und Hetze“, „Verteidigung der offenen Gesellschaft“. In der DDR hieß es „Schutz der sozialistischen Ordnung“. Die Worte sind freundlicher geworden. Die Richtung ist bemerkenswert ähnlich.

Eine Demokratie, die ihre Kritiker nicht erträgt, ist keine Demokratie mit „Sicherheitsupdate“. Sie ist auf dem Weg, sich selbst abzuschaffen. Und eine politische Klasse, die den Rechtsstaat zum Instrument der eigenen Machterhaltung formt, hat ihren Kompass verloren. Wer heute noch glaubt, all das sei nur ein bisschen Überkorrektur, wird spätestens beim ersten prominenten Beispiel eines Wahlrechtsentzugs merken, dass es hier nicht um Einzelfälle geht, sondern um ein System.

Infantilismus als Regierungsprogramm

Am Ende zeigt sich hinter all den wohlklingenden Formeln von Schutz, Resilienz und Bekämpfung von Desinformation ein erstaunlich schlichtes Menschenbild. Die Regierung traut dem eigenen Volk weder Urteilskraft noch Reife zu. Sie betrachtet Bürger nicht als souveräne Träger von Grundrechten, sondern als zu beaufsichtigende Risikogruppe, die vor falschen Gedanken, falschen Worten und falschen Entscheidungen geschützt werden muss.

Diese Politik ist nichts anderes als staatlich organisierter Infantilismus. Wer permanent vorschreibt, was gedacht, gesagt, gelesen und gewählt werden darf, behandelt Erwachsene wie Kinder, denen man die Schere aus der Hand nimmt, weil sie sich schneiden könnten. Ein Rechtsstaat, der seine Bürger nicht ernst nimmt, sondern sie erzieht, dressiert und lenkt, verfehlt seinen Kern. Er schafft nicht mündige Demokraten, sondern abhängige Untertanen – und genau das ist der Boden, auf dem sich der Weg in den Totalitarismus vollendet.

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